Moses zerbricht die Gesetzestafeln (Exodus 32, 19-20), gezeichnet von Gustave Doré.
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«Wir setzen uns für ‹christliche Werte› ein». Diesen Satz hört man von Politikern oft – sei es, um für ihr «humanes» Programm zu werben oder um die Schweizer vor der schleichenden Islamisierung zu warnen. Was ist dran an diesem Schlagwort? Ein Versuch, die Leere und Gefährlichkeit eines Ausdruckes zu analysieren.
In der Politik wird oft von «christlichen Werten» geredet. Sie gilt es zu bewahren, nach ihnen soll man leben. Die christlichen Werte werden von linker und genauso von rechter Seite in Anspruch genommen, und manch eine Partei in der Mitte trägt diese Stützen abendländischer Kultur gar in ihrem Slogan (EVP – «Christliche Werte. Menschliche Politik») – oder zumindest die Hälfte davon in ihrem Namen (Christlichdemokratische Volks-Partei). Parteien mit gänzlich unterschiedlichen Ausrichtungen stützen sich allesamt auf diese ominösen Werte und legen sie dementsprechend flexibel aus.
Nur, wenn ein Ausdruck alles bedeuten kann, ist er dann überhaupt noch etwas wert? Und wie gefährlich kann er werden, wenn er mit beliebigen Inhalten gefüllt wird?
Für die Zürcher EVP-Nationalrätin Maja Ingold sind es die Evangelien, die christliche Werte transportieren:
Maja Ingold, EVP-Nationalrätin
Der heilige Martin von Tours teilt seinen Mantel für einen Bettler. Fresko von Simone Martini.
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Zusammengefasst kann man das, wovon Ingold spricht, die Liebesethik Christi nennen, welche die alttestamentliche Gesetzestreue gegenüber Gott und seinen Geboten ablöste: «Liebe und Gnade – oder deutlicher und sozialer formuliert – Hilfe und Schutz für Mitmenschen (auch und gerade für Flüchtlinge) sowie Vergebung von Fehlern oder gar Aggressionen ‹der Anderen› stehen dabei im Zentrum», sagt der Historiker Achatz Freiherr von Müller. Und weiter:
Achatz Freiherr von Müller, emeritierter Professor für Geschichte des Mittelalters an der Universität Basel
Betrachtet man das Ganze mit den Augen der Kritiker, so ist die christliche Caritas in der Praxis natürlich reichlich korrumpiert worden: Seit Kaiser Konstantin, «dem ersten christlichen Monsterverbrecher», wie ihn der Kirchenkritiker Karlheinz Deschner nennt, ist die Geschichte des Christentums die Geschichte von Krieg, Blut, und Mord.
Francesco Hayez; «Der siebente Kreuzzug gegen Jerusalem».
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Karlheinz Deschner, Kirchenkritiker
Dazu komme, dass die sogenannten christlichen Tugenden (Gerechtigkeit, Tapferkeit, Weisheit, Mässigung, Glaube, Liebe, Hoffnung) alles andere als genuin christlich sind, betont von Müller: Platon, Aristoteles, Cicero und Seneca haben lange davor darüber geschrieben. Dem sei sich aber bereits der grosse Kirchenvater Augustinus bewusst gewesen.
Anlässlich der 100-Jahr-Feier der CVP hat Bundesrätin Doris Leuthard vor drei Jahren gesagt:
Doris Leuthard, Bundesrätin
Hier entfernen wir uns also schon viel weiter von einer spezifisch christlichen Interpretation: Denn der Rechtsstaat, ja die Menschenrechte überhaupt, die Gleichberechtigung, das sind keine Früchte des Christentums – und schon gar nicht die der Kirche. Im Gegenteil. Sie sind im ständigen Kampf gegen sie entstanden. Sie sind das Erbe der Aufklärung, säkulare Werte, die zu den Grundlagen unseres Staates geworden sind.
Blatt zur Erinnerung an das Inkrafttreten der ersten Bundesverfassung am 12. September 1848, in deren Präambel unter anderem steht: «Die Stärke des Volkes misst sich am Wohl der Schwachen.»
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Während CVP und EVP die christlichen Werte irgendwo im Dunstkreis ethisch-sozialer Verantwortung ansiedeln, sind sie für die SVP die bedrohten Grundpfeiler der abendländischen Kultur. In ihrer Rhetorik steckt die Warnung vor einem abermaligen «Türkensturm», vor der schleichenden Islamisierung, die unser christliches Erbe zunichte macht. Das Christentum wird zum Abgrenzungskriterium, wie es der Politik- und Religionsprofessor Antonius Liedhegener formuliert:
Antonius Liedhegener, Professor für Politik und Religion an der Universität Luzern
Hier wird es abermals angedeutet: Mit dem christlichen Glauben hat das Gerede von christlichen Werten nicht mehr viel zu tun. Der Gottesbezug ist für die Mehrheit nicht mehr von Belang. Gott ist tot – und was bleibt, sind diese diffusen Bezüge auf eine christliche Gemeinschaft, auf ein Abendland, dessen Werte es vor dem Muselmann zu schützen gilt.
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Dafür werden Symbolschlachten ausgetragen: Minarette, Burkas gehören verboten. Diese spitzen, bedrohlichen Phallen eines fremden Gottes wollen wir in unserem Stadtbild nicht haben, und diese wandelnden Zelte der Unterdrückung haben in unseren Strassen nichts verloren.
Man kämpft für das Recht eines jeden Kruzifixes, in einem Schweizer Schulzimmer zu hängen, obwohl die meisten Schüler gar nicht (mehr) wissen, wer dieser Typ mit dem Dornenkranz ist, der da neben ihnen an der Wand sein Martyrium stirbt. Aber was soll's. Es wird uns vergeben. Denn offensichtlich wissen wir noch immer nicht, was wir tun.
Detail des Isenheimer Altars, gemalt von Matthias Grünewald, von 1506 bis 1515.
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Auch der Kirchenhistoriker Martin Wallraff fragt sich manchmal, warum in moderner Zeit so viel von christlichen Werten gesprochen wird, wo doch die Religiosität und der Glaube der Menschen längst auf dem Sterbebett liegen:
Martin Wallraff, Ordinarius für Kirchen- und Theologiegeschichte an der Universität Basel
Vielen jungen Menschen sagt der Glaube nichts bis gar nichts mehr.
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«Christliche Werte», dieser Begriff ist zum politischen Schlagwort geworden, das alles und genau darum nichts mehr bedeutet. Wahrscheinlich hat Wallraff recht, wenn er sagt, dass es die christlichen Werte eigentlich nicht gibt. Nur schon der Plural dieses Ausdruckes ist sehr verräterisch. Er deutet an, dass man diese Werte aufzählen kann, aber niemand tut das wirklich. Offenbar ist mit ihnen nichts Konkretes gemeint, sie weichen einer eindeutigen Definition aus. Deshalb ist ein solcher Ausdruck als wissenschaftliche Kategorie schon mal völlig untauglich. Für den Alltag und die Politik hingegen umso nützlicher: Die Schwammigkeit des Schlagwortes lässt es zu, dass die Menschen alle möglichen Assoziationen dranhängen, die von der Liebe zum Feind bis hin zum Hass auf den Feind reichen. Und Letzteres kann sehr gefährlich sein.
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Denn Hass ist seit jeher populärer als die Liebe. Der Feind wechselt im Laufe der Menschheitsgeschichte zwar sein Gesicht, aber er ist immer da. Heute ist es der Islam – oder genauer seine angeblichen Versatzstücke wie Kopftücher, Burkas, Minarette und alles, was man damit verbindet: Unterdrückung, Rückständigkeit, religiöser Fanatismus, «IS»-Kopfabschneider, das blutige Schwert. All das schwappt mit den Flüchtlingen in unser Land. Und diese barbarische Welle wird unsere zivilisierte Welt niederreissen – so tönen die Rufe der Verängstigten. Verteidigt unsere christlichen Werte! Verteidigt unsere abendländische Kultur!
Nur ist Kultur ein bisschen mehr als dieses leere Geschwätz von christlichen Werten. Und wegen zwei bis drei Burkas ist sie ganz sicher nicht dem Untergang geweiht.
Platon