Die Türkei wird international wegen des Einmarschs in Syrien verurteilt. Im Land gibt es kaum Kritik, selbst die Opposition ist vorsichtig: Das Militär ist vielen heilig.
Lässt sich feiern: Recep Tayyip Erdogan. Bild: EPA
Buket Aydin steht auf einem Schotterboden in der türkischen Grenzstadt Akçakale, in der Hand hält sie ein Mikrofon und blickt in die Ferne. Als das Foto, für das sie posiert, entsteht, weiss sie noch nicht, dass es viel Häme im Internet verursachen wird. Hinter ihr ist der nördliche Teil Syriens zu sehen, wo schwarze Rauchsäulen aufsteigen. Die Türkei hat eine hochumstrittene Militäroffensive gestartet und greift in Nordsyrien Stellungen der Kurdenmiliz YPG an. «Gott möge unseren Soldaten helfen», schreibt die Nachrichtenmoderatorin, als sie das Foto twittert. Wohl um sich solidarisch mit den türkischen Streitkräften zu zeigen, trägt die Reporterin auch eine Camouflage-Hose. Seit das Foto hochgeladen wurde, wird in sozialen Medien über die Unabhängigkeit türkischer Kriegsreporterinnen und -reporter diskutiert.
Auf Twitter, wo sich besonders viele türkische Regierungskritikerinnen und -kritiker tummeln, wird auch der Reporter Kerim Ulak vom Sender aHaber kritisiert. Als das türkische Militär 2018 das erste Mal in Syrien einmarschierte, twitterte Ulak: «Die Söhne der Osmanen sind auf dem Weg nach Afrin». Dazu lud er ein Foto hoch. Zu sehen ist er mit einer Weste, auf der «Presse» steht, in einer Hand hält er eine Axt, in der anderen ein Schwert.
Ein Grossteil der türkischen Presse und TV-Sender steht auf der Seite der islamisch-nationalistischen AKP, und entsprechend häufig sind solche Bilder, die den Status von Reportern als neutrale Berichterstatter konterkarieren. Dieser Kriegsrausch der Medien nützt derzeit vor allem einer Person: Recep Tayyip Erdoğan.
Der türkische Präsident profitiert vom Einmarsch der Türkei in Syrien gleich doppelt. Zum einen kann er dem türkischen Volk demonstrieren, dass er gegen «Terroristen» vorgeht. Zum anderen hat er in Zeiten schwindender Umfragewerte und einer erstarkten Opposition seine Kritiker kaltgestellt: Nur wenige trauen sich, den Einmarsch zu kritisieren. Zu gross ist die Gefahr von der Regierung und den ihr treuen Medien als «Vaterlandsverräter» abgestempelt zu werden. Zudem ist Kritik am Militär ein hochsensibles Thema, da die Türkei einen seit Jahrzehnten andauernden Krieg gegen die PKK führt. Und so kommt es, dass sich in der Türkei bis auf die prokurdische HDP keine Oppositionspartei gegen den Einmarsch stellt.
Einen kritischen Vorstoss wagte zwar der Chef der grössten Oppositionspartei CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, als er in sozialen Medien eine Liste mit sieben Fragen an Erdoğan richtete. Eine davon: «Wer liess damals die Terroristen aus aller Welt über die Türkei nach Syrien passieren?» Am Ende ging aber auch die CHP auf Nummer sicher und kritisiert Erdoğan nicht weiter für die Militäroffensive. Sie unterstützt diese offiziell sogar. Solange der Krieg andauert und die Medien dahinterstehen oder ihn zumindest stillschweigend dulden, gehört die politische Bühne Erdoğan.
Erdogan mit Pence Bild: AP
Schnell sind da die Verluste der Regierungspartei bei der landesweiten Kommunalwahl im März vergessen, genauso wie der furiose Sieg von Ekrem İmamoğlu in Istanbul, der den Einmarsch aktuell aber ebenfalls nicht kritisiert. Der CHP-Politiker hatte im Sommer den Erdoğan-Kandidaten und ehemaligen Ministerpräsidenten der Türkei, Binali Yıldırım, bei der Wahl zum Oberbürgermeister der Stadt geschlagen. Die Niederlage für die AKP hatte eine Signalwirkung für einen politischen Umbruch in der Türkei.
Wenn es um den Krieg in Nordsyrien geht, scheint die Gesellschaft aber geeinter zu sein. Nach einem Bericht der streng regierungstreuen Zeitung Yeni Şafak unterstützen aktuell laut einer Umfrage mit 2'100 Teilnehmern 75 Prozent der Türken die Operation Friedensquell. Jüngst haben Behörden ankündigt, auch gegen jene Kritiker zu ermitteln, die den Einmarsch in sozialen Medien kritisieren. Doch dass so viele Türken den Einmarsch unterstützen, dürfte weniger mit der Furcht vor der Polizei zu tun haben, sondern mit einer tief verwurzelten Nähe der Zivilgesellschaft zum Militär.
Schon der Gründer der modernen Türkei, Mustafa Kemal Atatürk, hatte Verbindungen zur Armee – er war General, Kriegsheld und auch Gründer der säkularen CHP. Zudem galt das Militär in der Türkei lange als Hüter der säkularen Verfassung; es putschte unter anderem gegen islamische Politiker. Hinzu kommt der seit 35 Jahren andauernde Krieg zwischen türkischen Soldaten und der kurdischen Guerillaorganisation PKK. Schätzungen zufolge sind rund 40'000 Menschen in dem Konflikt gestorben. Getötete Soldaten wurden auch vor Erdoğans Machtübernahme unter grosser Medienpräsenz beigesetzt. Entsprechend aufgeladen sind die Emotionen vieler Türkinnen und Türken, wenn es um türkische Soldaten geht. Nicht wenige von ihnen reagieren dabei reflexhaft nationalistisch und wütend auf die kurdische Zivilgesellschaft, die sich auch für Dialoge einsetzt, um den Kurdenkonflikt in der Türkei zu lösen.
Zum Vorteil des Präsidenten teilen auch viele seiner Kritiker die Auffassung, die Türkei werde von der in Nordsyrien ansässigen YPG bedroht. Während die Kurdenmiliz wegen ihres Kampfs gegen den sogenannten Islamischen Staat im Ausland gefeiert wird, sehen viele Türkinnen und Türken die Lage anders. Bis auf die prokurdische HDP beschuldigt ein breites politisches Spektrum die USA, EU und Deutschland, die «YPG-Terroristen» zu Helden verklärt zu haben. Die türkische Regierung schlachtet das innenpolitisch aus.
Tatsächlich ist die Situation paradox. Die YPG ist nach türkischer Interpretation die syrische Kopie der PKK. Beobachter und auch der deutsche Verfassungsschutz stufen die Miliz ebenfalls als «Schwesterorganisation» der PKK ein. Die wiederum ist nicht nur in der Türkei, sondern auch in Deutschland, der EU und den USA als ausländische Terrororganisation eingestuft. Bisher ging von der YPG anders als von der PKK keine direkte Bedrohung für die Türkei aus. Dagegen kontert die Regierung, dass der von der YPG besetzte Korridor in Nordsyrien eines Tages als Rückzugsgebiet für die PKK dienen kann – ähnlich wie das Kandil-Gebirge im Irak.
Dennoch hält sich nicht jeder in der Türkei zurück: Der CHP-Politiker und Menschenrechtler Sezgin Tanrıkulu hatte als einer der ersten den Vormarsch öffentlich kritisiert. Als er daraufhin heftig angegangen wurde, wehrte er sich jüngst mit einer Rede im Nationalparlament in Ankara. «Wir müssen uns nicht an die Linie halten, die uns die Regierung vorgibt. Jeder, der aber etwas gegen die Operation sagt, wird momentan von ihr als Verräter dargestellt», sagte Tanrıkulu. «Dabei sollte es doch die Aufgabe des Staates sein, mich als Bürger zu schützen.» Überraschend hat sich auch Mustafa Akıncı, Präsident des türkischen Teils von Zypern, auf Facebook kritisch zu der Operation Friedensquell geäussert und sich somit angreifbar gemacht.
Dass die Opposition zurzeit kaltgestellt ist, fiel wohl auch İsmail Küçükkaya auf. Er ist ein bekannter Moderator bei Fox, dem einzigen regierungskritischen Sender mit grosser Reichweite in der Türkei. Am Mittwoch twitterte Küçükkaya: «Lasst uns auch einmal über die Wirtschaft sprechen. Besonders über die Jugendarbeitslosigkeit».
Wie lange die Opposition die Bühne weiterhin Erdoğan überlässt, hängt vom Verlauf des Kriegs ab – oder einem möglichen Deal. Zuletzt hatte sich die YPG mit Baschar al-Assad verbündet, um sich gegen die türkische Armee zu wehren. Der Diktator steht unter der schützenden Hand von Wladimir Putin. Derzeit ist nicht davon auszugehen, dass es zu einer Konfrontation zwischen der Türkei und Russland kommen wird.
Die Türkei wird im Westen zunehmend isoliert und mit Sanktionen abgestraft. Dagegen rückten Erdoğan und Putin zuletzt näher aneinander. Die beiden Staatschefs haben bereits ein Treffen in Moskau vereinbart. Ob und worauf sie sich in Nordsyrien einigen, ist noch unklar. Vielleicht wird Erdoğan einen kleineren Teil des Korridors als Pufferzone zwischen der Türkei und dem Gebiet akzeptieren, in dem die Kurdenmiliz derzeit aktiv ist. Vielleicht wird er sich zufriedengeben, wenn die YPG unter Assads Führung nur noch an vereinzelten Orten entlang des knapp 500 Kilometer weiten Korridors verweilt.
Jedenfalls könnte dem türkischen Präsidenten am Ende auch ein kleiner Erfolg innenpolitisch viel bringen, vor allem, wenn es ohne hohe Opferzahlen auf Seiten der türkischen Armee zu einer Einigung kommt.
Dieser Artikel wurde zuerst auf Zeit Online veröffentlicht. Watson hat eventuell Überschriften und Zwischenüberschriften verändert. Hier geht’s zum Original.