Woche für Woche versammeln sich Lockdown-Gegner, um gegen einen Lockdown zu demonstrieren, den es gar nie gegeben hat. Das Demonstrationsverbot spielt diesen Leuten in die Hände.
Liebe Frau Keller-Sutter
Die Corona-Krise ist historisch gesehen keine Ausnahme. Sobald eine Gesellschaft mit einer unsichtbaren Bedrohung konfrontiert ist, haben Verschwörungstheorien Hochkonjunktur.
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Es wirkt auf viele Menschen beruhigend, einen fassbaren Verursacher einer Misere zu haben, gegen den man etwas unternehmen kann. Und sei es nur zu demonstrieren. Das ist immer noch besser, als die diffuse Angst und Unsicherheit in einer unkontrollierbaren Bedrohungssituation zu akzeptieren und auszuhalten.
Wie absurd die Konstrukte sind, die zum Sündenbock führen, spielt dann eine untergeordnete Rolle. Früher waren es die Juden, die die Brunnen vergiftet haben, um die Weltherrschaft zu übernehmen. Jetzt ist es Bill Gates, der das Coronavirus erfunden hat, um die Menschheit zu verchippen.
Nun haben die Juristen Ihres Bundesamts für Justiz nach einigen geduldeten und einigen aufgelösten Demonstrationen und auch einiger Verwirrung offenbar entschieden: Es ist gemäss den Covid-Verordnungen für Gruppen von bis zu fünf Personen möglich, sich zum Zweck der politischen Kundgebung zu versammeln, sofern die Abstands- und Hygieneregeln eingehalten werden können.
Im Sinne der Bevölkerungs-Psychohygiene sollten Sie vielleicht sogar einen Schritt weitergehen und politische Kundgebungen als fundamentalen Bestandteil des demokratischen Rechtsstaats auch für grössere Gruppen erlauben.
Das wäre aus drei Gründen sinnvoll:
Erstens demonstrieren derzeit nur noch eine Handvoll eingefleischte Verschwörungstheoretiker, angereichert mit Leuten, die unter dem Lockdown-Fatigue-Syndrom leiden. Letzteres wird ein zunehmendes Problem werden, das man ernst nehmen und so oder so beobachten muss. Das geht im öffentlichen Raum besser als in den Tiefen des Internets. Und Erstere entfalten ihre schädliche Wirkmächtigkeit erst über den Spektakelwert, den es gar nicht gäbe, wären solche Kundgebungen nicht verboten.
Zweitens haben Bewilligungen den Vorteil, dass die Organisatorinnen und Organisatoren nicht mehr anonym via Telegram-Chats agieren können, sondern namentlich bekannt werden. Das möchten diese Leute aber nicht unbedingt. Denn sie werden dann, wenn auch nicht rechtlich, dann zumindest moralisch zur Verantwortung gezogen. Etwa, wenn die Distanz- und Hygieneregeln nicht eingehalten und damit letztlich Unbeteiligte gefährdet werden.
Drittens hätte der am meisten verängstigte Teil der Bevölkerung dann ein Ventil. Es gäbe die Möglichkeit, sich mit einer Demonstration gegen Bill Gates oder wen auch immer unkompliziert selbst zu beruhigen.
Das mag zwar seltsam anmuten, ist aber aus gesundheitspräventiver und gesellschaftlicher Sicht vermutlich weit weniger schädlich, als wenn sich diese Leute anonym zu Hause mit ihrem Telegram-Chat Linderung verschaffen und allenfalls nachhaltig radikalisiert werden.
Hochachtungsvoll