Seit fast 50 Jahren dürfen Frauen in der Schweiz auf Bundesebene abstimmen. Sie sind so engagiert und interessiert wie die Männer – schätzen ihren politischen Einfluss aber als gering ein. Bild: KEYSTONE
Corona-Pandemie, Klimaerwärmung – wir leben in einer Zeit der Krisen. Trotzdem haben die Schweizerinnen und Schweizer Vertrauen in die Demokratie und in die politischen Institutionen – und sie sehen in den Herausforderungen auch Chancen.
Der steile Anstieg der Covid-19-Infektionszahlen im Oktober ist auch ein Stresstest für die politischen Institutionen in der Schweiz. Die zunächst zögerliche Reaktion des Bundesrates auf diese Herausforderung hat ihm harsche Kritik von verschiedener Seite eingebracht. Gleichwohl wäre es verfehlt, von einer veritablen Vertrauenskrise zu sprechen. Dies geht zumindest aus dem Fazit des ersten Schweizer Chancenbarometers hervor, dessen Ergebnisse heute präsentiert werden: Es attestiert den Schweizerinnen und Schweizern ein nach wie vor hohes Vertrauen in die politischen Institutionen ihres Landes.
Die repräsentative Umfrage (siehe Infobox unten) zeigt, wie die Einwohner der Schweiz die Demokratie wahrnehmen – was sie von ihr erwarten, was sie schätzen und vermissen. Sie zeigt, wie gross das Interesse der Bürgerinnen und Bürger an Schweizer Politik ist und wie sie ihre Kompetenz einschätzen, politische Fragen zu beurteilen. Und sie zeigt, in welchem Mass die Bevölkerung in Herausforderungen – etwa der Klimaerwärmung, der Zuwanderung, der Finanzierung des Gesundheitssystems oder der Zukunft der Altersvorsorge – Chancen für einen Wandel sieht.
Herausforderungen (rosa) und damit verbundene Chancen (grün): Die Klimaerwärmung gilt als grösste Chance, die Finanzierung des Gesundheitssystems als grösste Herausforderung. Diagramm: Chancenbarometer
Tina Freyburg, Professorin für Vergleichende Politikwissenschaft, Universität St.Gallen
Dieser «optimistische Kern der Schweizer Demokratie» tritt in den Ergebnissen des Chancenbarometers 2020 zutage. Hier sind seine wichtigsten fünf Befunde:
Schweizerinnen und Schweizer sind in der Mehrheit politisch aktiv. So haben sich in den letzten fünf Jahren 67 Prozent der Befragten in einer Partei oder Gruppierung engagiert. Ihrer Meinung öffentlich durch ein Abzeichen, eine Fahne oder Ähnliches gaben 68 Prozent Ausdruck, online taten dies 65 Prozent. 60 Prozent nahmen an einer Demonstration teil. Während rund 20 Prozent auch neuartige Formen des politischen Engagements ausprobieren möchten, kommt für weitere 20 Prozent politisches Engagement überhaupt nicht in Frage. Grundsätzlich – so das Fazit – gilt: Je mehr Herausforderungen Menschen mit Chancen verbinden, desto mehr bringen sie sich politisch ein.
Die Schweizerinnen und Schweizer, die eher Chancen sehen, haben sich in den letzten fünf Jahren politisch viel stärker eingebracht. Bild: Chancenbarometer
Im April verlieh die Corona-Pandemie dem Vertrauen in den Bundesrat einen deutlichen Schub. Danach ging es um beinahe 10 Prozent zurück, während jedoch zugleich der Anteil jener, die überhaupt kein Vertrauen in den Bundesrat haben, konstant niedrig blieb. Weniger Vertrauen geniessen indes die politischen Parteien: Rund die Hälfte der Schweizerinnen und Schweizer hat kein oder nur geringes Vertrauen in die Parteien. Dies ist allerdings im Vergleich mit anderen europäischen Ländern nach wie vor überdurchschnittlich hoch. Fazit: Von einer Vertrauenskrise kann keine Rede sein.
Bundesrat und Rechtssystem geniessen das höchste Vertrauen, dagegen hat nur knapp die Hälfte Vertrauen in die politischen Parteien. Diagramm: Chancenbarometer
Mit dem Vertrauen korreliert die Zufriedenheit: Rund drei Viertel der Schweizer Bürgerinnen und Bürger sind zufrieden damit, wie die Demokratie in ihrem Land funktioniert. 10 Prozent sind sogar äusserst zufrieden, während lediglich 5 Prozent sich als äusserst unzufrieden bezeichnen. Dieser Befund gilt mit vernachlässigbaren Unterschieden für alle staatlichen Ebenen, also von der Gemeinde über den Kanton bis zum Bund. Auch hier belegt die Schweiz im internationalen Vergleich einen Spitzenplatz: Laut Eurobarometer waren letztes Jahr fast 60 Prozent der Westeuropäer unzufrieden mit der Demokratie in ihrem Land.
Die Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie ist generell hoch; die Unterschiede zwischen den verschiedenen staatlichen Ebenen sind gering. Diagramm: Chancenbarometer
Martin Hartmann, Professor für Philosophie, Universität Luzern
Im Ranking der Herausforderungen belegt die Klimaerwärmung hinter der Finanzierung des Gesundheitssystems den zweiten Platz, gleichauf mit der Zukunft der Altersvorsorge. Mit beinahe 60 Prozent ist der Anteil der Befragten, die die Klimafrage als äusserst grosse Herausforderung einschätzen, bei den unter 35-Jährigen besonders gross. Wenn es hingegen darum geht, Chancen in der Klimaerwärmung zu sehen, sind Grosseltern (76 Prozent) und Enkel (73 Prozent) fast gleichauf, wobei der Anteil jener, die sogar sehr grosse Chancen sehen, bei den Jungen grösser ist.
Über 65-Jährige sind optimistischer als jüngere Altersgruppen. Bild: KEYSTONE
Generell sind jedoch die Senioren optimistischer als die jüngeren Altersgruppen: Nicht nur bei der Klimaerwärmung, sondern in sämtlichen Bereichen sind mehr über 65-Jährige als unter 35-Jährige bereit, Chancen zu sehen. Lediglich bei der Digitalisierung und der Klimaerwärmung gibt es mehr Junge, die der Meinung sind, hier gebe es sehr grosse Chancen.
In sämtlichen Bereichen sind die über 65-Jährigen optimistischer als die unter 35-Jährigen. Diagramm: Chancenbarometer
Die Einwohner der städtischen Schweiz sind ein wenig optimistischer als jene auf dem Land, doch der Unterschied ist – ausser bei kontroversen Themen wie der Zuwanderung und den Beziehungen zur EU – eher gering. Dort und bei der Digitalisierung sind es jedoch um die 10 Prozent mehr Stadtbewohner, die grosse Chancen in der jeweiligen Herausforderung sehen. Ansonsten differieren Stadt und Land nur um etwa 1 Prozent. Einzig bei der Frage, wie das Gesundheitssystem finanziert werden soll, sind die Landbewohner ein wenig optimistischer als die Grossstädter. Insgesamt sehen die Einwohner der kleinen und mittelgrossen Städte am meisten Chancen.
Bei der Digitalisierung und stark umstrittenen Themen wie der Zuwanderung sehen die Grossstadtbewohner mehr Chancen als die Landbewohner, diese sind bei der Finanzierung des Gesundheitssystems etwas optimistischer. Diagramm: Chancenbarometer
Schweizerinnen und Schweizer sind demokratische Partizipation gewohnt. Aber sie schätzen ihre eigene politische Kompetenz sehr unterschiedlich ein: Nur etwas mehr als die Hälfte betrachtet sich als kompetent genug, um komplexe politische Fragen zu verstehen. Dabei gibt es kaum Unterschiede zwischen Männern und Frauen; Frauen schätzen sich nicht signifikant als weniger kompetent oder informiert ein als Männer. Dagegen sind sie aber viel weniger als Männer davon überzeugt, dass ihre Stimme tatsächlich gehört wird.
Zwischen Frauen und Männern gibt es nur einen kleinen Unterschied bei der Einschätzung der eigenen Kompetenz. Ganz anders sieht es bei Einschätzung des eigenen politischen Einflusses aus. Diagramm: Chancenbarometer
Tina Freyburg